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Kapitel 3 – Kommt mit, kommt mit!
Nachdem Mr. und Mrs. Darling das Haus verlassen hatten, brannten die Nachtlichter bei den Betten der drei Kinder einen Moment lang weiter. Es waren schrecklich liebe und kleine Nachtlichter und es wäre zu schön gewesen, wenn sie wach geblieben wären, um Peter zu sehen, aber Wendys Lichtchen blinzelte und gähnte so sehr, dass die anderen zwei auch gähnen mussten und noch bevor sich ihre Münder schlossen, gingen alle drei aus.
Im Zimmer schien nun ein anderes Licht. Es war tausendfach heller als die Nachtlichter und in der Zeit, die wir brauchen, um dies alles zu erzählen, war es schon in allen Schubladen des Kinderzimmers gewesen, um nach Peters Schatten zu suchen und es hatte sogar den Kleiderschrank durchwühlt und alle Hosentaschen umgekrempelt. Es war nicht wirklich ein Licht, vielmehr machte es dieses Licht, indem es blitzschnell umherflog – aber kam es mal zur Ruhe, konntest du sehen, dass es eine Fee war, nicht länger als deine Hand, aber immer noch am Wachsen. Es war ein Mädchen namens Tinker Bell und sie war vorzüglich gekleidet in ein Blattskelett, das tief ausgeschnitten war und doch anständig wirkte und ihre Figur überaus vorteilhaft zur Geltung brachte. Sie neigte ein wenig zu Leibesfülle [dralle Sanduhr Figur]. Kurz nach dem Erscheinen der Fee flogen durch den Atem der kleinen Sterne die Fenster auf und Peter kam hereingesprungen. Er hatte Tinker Bell ein Stück des Weges getragen und seine Hand war noch immer voller Feenstaub. »Tinker Bell«, rief er sanft, nachdem er sichergestellt hatte, dass die Kinder schliefen. »Tink, wo bist du?« Momentan war sie in einem Krug, was sie überaus genoss, denn noch nie zuvor war sie in einem Krug gewesen. »Ach, komm doch bitte aus dem Krug heraus und sag mir, ob du weißt, wo sie meinen Schatten versteckt haben.« Ein allerliebstes Klingeln wie von goldenen Glocken antwortete ihm. Es ist die Feensprache. Ihr gewöhnlichen Kinder könnt sie nicht hören, aber solltet ihr sie jemals zu hören bekommen, dann wüsstest ihr, dass ihr sie früher schon einmal gehört habt. Tink sagte, dass der Schatten in der großen Kiste sei. Sie meinte die Kommode und Peter sprang zu den Schubladen und verstreute ihren Inhalt mit beiden Händen auf dem Boden, so wie Könige Groschen in die Menge werfen. Im Nu hatte er seinen Schatten wieder in Besitz genommen und in seiner Freude vergaß er, dass er Tinker Bell in der Schublade eingeschlossen hatte. Falls er überhaupt mal nachdachte, aber ich bezweifle, dass er jemals nachdachte, dachte er, dass er und sein Schatten, wenn sie nur wieder beieinander wären, sich wie Wassertropfen miteinander verbinden würden und als sie das nicht taten, war er entsetzt. Er versuchte, ihn mit Seife aus dem Badezimmer anzukleben, aber das schlug fehl. Ein Schauder durchlief Peter und er setzte sich auf den Boden und weinte. Sein Schluchzen weckte Wendy und sie richtete sich in ihrem Bett auf. Es kümmerte sie nicht, jemand Fremdes zu sehen, der auf dem Boden des Kinderzimmers saß und weinte. Sie war bloß angenehm überrascht. »Junge«, sagte sie höflich, »warum weinst du denn?« Peter konnte auch unglaublich höflich sein, hatte er doch die altehrwürdigen Umgangsformen bei den Zeremonien der Feen gelernt und so erhob er sich und verneigte sich auf wunderschöne Weise vor ihr. Sie war höchst zufrieden und verneigte sich ebenso graziös von ihrem Bett aus. »Wie ist dein Name?«, fragte er. »Wendy Moira Angela Darling«, antwortete sie mit Genugtuung. »Wie ist dein Name?« »Peter Pan.« Sie war sich bereits sicher gewesen, dass er Peter sein musste, aber sein Name schien verhältnismäßig kurz. »Ist das alles?« »Ja«, sagte er recht bissig. Zum ersten Mal empfand er, dass es ein recht kurzer Name war. »Es tut mir so leid«, sagte Wendy Moira Angela. »Macht nichts«, sagte Peter hastig. Sie fragte, wo er denn wohne. »Die zweite rechts ab«, sagte Peter, »und dann immer geradeaus bis der Morgen graut.« »Was für eine komische Adresse!« Peter kam es vor, als fiele er in ein Loch. Zum allerersten Mal empfand er, dass es unter Umständen eine komische Adresse war. »Nein, ist es nicht«, sagte er. »Ich meine«, sagte Wendy auf nette Weise, denn sie erinnerte sich daran, dass sie die Gastgeberin war, »schreibt man das so auf Briefe?« Er wünschte sich, sie hätte Briefe nicht erwähnt. »Bekomme keine Briefe«, sagte er verächtlich. »Aber deine Mutter bekommt Briefe?« »Habe keine Mutter«, sagte er. Es war nicht nur so, dass er keine Mutter hatte, er hatte nicht einmal das geringste Verlangen danach, eine zu haben. Er hielt sie für zutiefst überschätzte Personen. Wendy dagegen spürte sogleich, dass sie Zeugin einer Tragödie geworden war. »Ach Peter, kein Wunder, dass du geweint hast«, sagte sie, stieg aus dem Bett und rannte zu ihm. »Ich habe nicht wegen Müttern geweint«, sagte er geradezu empört. »Ich weinte, weil sich mein Schatten nicht festkleben lässt. Davon abgesehen, habe ich gar nicht geweint.« »Er ist abgegangen?« »Ja.« Dann sah Wendy den Schatten auf dem Boden liegen und er sah so schmutzig aus und sie hatte so schrecklich viel Mitleid mit Peter. »Wie furchtbar!«, sagte sie, konnte sich jedoch das Lächeln nicht verkneifen, als sie sah, dass er versucht hatte, ihn mit Seife anzukleben – Haargenau das, was man von einem Jungen erwarten würde! Zum Glück wusste sie auf der Stelle, was zu tun war. »Er muss angenäht werden«, sagte sie ein wenig von oben herab. »Was ist angenäht?«, fragte er. »Du bist schrecklich ahnungslos.« »Nein, bin ich nicht.« Aber sie jauchzte über seine Unwissenheit. »Ich werde ihn für dich annähen, mein kleiner Mann«, sagte sie, obwohl er genauso groß war wie sie und sie holte ihr Nähetui hervor und nähte den Schatten an Peters Fuß fest. »Ich fürchte, es wird ein wenig wehtun«, warnte sie ihn. »Ach was, ich werde schon nicht weinen«, sagte Peter, der längst wieder der Meinung war, dass er noch nie im Leben geweint hatte. Er biss die Zähne zusammen und er weinte nicht und bald benahm sich sein Schatten wieder ordnungsgemäß, obschon er ein wenig zerknittert war. »Vielleicht hätte ich ihn vorher bügeln sollen«, sagte Wendy nachdenklich, doch Peter – ganz der Junge – war es egal, wie er aussah und er sprang wild entzückt umher. Leider Gottes hatte er schon längst vergessen, dass er sein Glück Wendy zu verdanken hatte. Er dachte tatsächlich, er hätte den Schatten selbst befestigt. »Wie schlau ich bin!«, prahlte er verzückt und krähte, »oh, was bin ich so klug!« Es ist eine Schande, eingestehen zu müssen, dass der Hochmut Peters eine seiner faszinierendsten Eigenschaften war. Ganz offen gesagt, hatte es nie einen übermütigeren Jungen gegeben. Wendy war schockiert. »Du Angeber«, rief sie spöttisch, »natürlich habe ich nichts gemacht!« »Ein bisschen was, hast du gemacht«, sagte Peter lieblos und tanzte weiter. »Ein bisschen!«, sagte sie stolz, »Wenn ich schon nichts tauge, kann ich mich ja auch zurückziehen.« Und sie sprang unglaublich würdevoll in ihr Bett und bedeckte ihr Gesicht mit der Decke. Um sie dazu zu bringen, wieder aufzublicken, tat er so, als ob er fortginge und als der gewünschte Erfolg ausblieb, setzte er sich ans Bettende und tippte sie leicht mit seinem Fuß an. »Wendy«, sagte er, »zieh dich nicht zurück. Ich kann nicht anders, Wendy. Ich muss krähen, wenn ich froh mit mir bin.« Sie weigerte sich noch immer, ihn anzusehen, doch hörte sie ganz aufmerksam zu. »Wendy«, sprach er weiter mit einer Stimme, der noch keine Frau hatte widerstehen können, »Wendy, ein Mädchen taugt mehr als zwanzig Jungen.« Jetzt war jeder Zentimeter von Wendy ganz Frau – auch wenn es nicht sonderlich viele Zentimeter waren – und sie blickte unter der Bettdecke hervor. »Glaubst du das wirklich Peter?« »Ja, das tue ich.« »Ich finde, das ist unglaublich süß von dir. Ich stehe dann mal wieder auf«, verkündete sie und setzte sich neben ihn auf den Rand des Bettes. Sie sagte auch, dass sie ihm einen Kuss geben würde, wenn er das wolle, aber Peter wusste nicht, was sie damit meinte und streckte erwartungsvoll seine Hand aus. »Natürlich weißt du, was ein Kuss ist?«, fragte sie fassungslos. »Ich werde es wissen, sobald du es mir gibst«, antwortete er steif und um nicht seine Gefühle zu verletzen, gab sie ihm einen Fingerhut. »OK«, sagte er, »soll ich dir jetzt einen Kuss geben?« Sie zierte sich und antwortete: »Wenn du möchtest.« Sie machte es ihm ein wenig leichter, indem sie ihm das Gesicht zuneigte, aber er ließ lediglich einen Eichelknopf in ihre Hand fallen. Also zog sie langsam den Kopf zurück und sagte nett, dass sie seinen Kuss an einer Kette um ihren Hals tragen würde. Zum Glück machte sie es wirklich am Kettchen fest, denn das sollte ihr noch das Leben retten. Wenn Menschen wie wir sich einander vorstellen, ist es üblich, sich gegenseitig nach dem Alter zu fragen und deswegen fragte Wendy, die es immer richtig machen wollte, Peter, wie alt er sei. Es war nicht unbedingt die beste Idee, ihm diese Frage zu stellen. Es war wie ein Test, der Grammatik abfragt, wenn man eigentlich über die englischen Könige abgefragt werden will. »Ich weiß es nicht«, antwortete er nervös, »aber ich bin ziemlich jung.« Er wusste es wirklich nicht. Er hatte lediglich so eine Vermutung. Also sagte er auf gut Glück: »Wendy, ich lief noch am Tag meiner Geburt von Zuhause weg.« Wendy war ziemlich überrascht, aber zeigte sich interessiert und sie deutete ihm mit einer Berührung ihres Nachthemdes an, was den Gepflogenheiten des Gesellschaftszimmers entsprach, dass er näherrücken durfte. »Es war, weil ich Vater und Mutter hörte«, erklärte er mit gedämpfter Stimme, »wie sie darüber sprachen, was ich werden sollte, wenn ich mal ein Mann war.« Er war jetzt unglaublich aufgewühlt. »Ich will niemals ein Mann werden«, sagte er leidenschaftlich. »Ich will für immer ein kleiner Junge bleiben und Spaß haben. Also lief ich weg nach Kensington Gardens und lebte für lange, lange Zeit mit den Feen zusammen.« Ihr Blick verriet größtmögliche Bewunderung und er dachte, es hätte damit zu tun, dass er weggelaufen war, aber eigentlich sah sie ihn so an, weil er Feen kannte. Wendy hatte ein so häusliches Leben geführt, dass die Vorstellung Feen zu kennen, sie unglaublich reizte. Sie stellte eine Frage nach der anderen, was ihn überraschte, denn für ihn waren Feen eher eine Plage. Sie kamen ihm oft in die Quere und so und tatsächlich musste er ihnen manchmal den Hintern versohlen. Dennoch mochte er sie im Großen und Ganzen, also erzählte Peter ihr von den Ursprüngen der Feen. »Siehst du, Wendy, als das erste Baby zum ersten Mal lachte, zerbrach sein Lachen in tausend Stücke und die Stücke hüpften hin und her und das war der Anfang von den Feen.« Was für ein langweiliges Gerede, aber weil sie so eine Stubenhockerin war, gefiel es ihr. »Und deswegen« redete er artig weiter, »sollte es für jeden Jungen und jedes Mädchen eine Fee geben.« »Sollte? Ist das nicht so?« »Nein. Weißt du, Kinder wissen heute so viel, sie glauben bald nicht mehr an Feen und jedes Mal, wenn ein Kind sagt, ›Ich glaube nicht an Feen‹, fällt irgendwo eine Fee tot um.« Er glaubte, nun genug über Feen gesprochen zu haben und es kam ihm seltsam vor, dass Tinker Bell so ruhig blieb. »Ich frage mich, wo sie wohl hingegangen ist«, sagte er, stand auf und rief nach Tink. Wendys Herz begann in einem Anflug plötzlicher Verzückung zu flattern. »Peter«, schrie sie und umklammerte ihn, »du willst doch nicht allen Ernstes sagen, dass hier in diesem Zimmer eine Fee ist!« »Gerade eben war sie noch hier«, sagte er ein wenig ungeduldig. »Du hörst sie nicht zufällig, oder?« Beide lauschten. »Das einzige Geräusch, das ich höre«, sagte Wendy, »hört sich an wie das Klingeln von Glocken.« »Nun ja, das ist Tink und das ist die Feensprache. Ich glaube, ich höre sie auch.« Das Geräusch kam aus der Kommode und Peter machte ein vergnügtes Gesicht. Niemand sonst konnte annähernd so vergnügt schauen wie Peter und sein Lachen war das lieblichste Gurgeln – er hatte noch sein erstes Lachen. »Wendy«, wisperte er vergnügt, »Ich wette, ich habe sie in der Kommode eingeschlossen!« Er befreite die Arme aus der Kommode und sie flog im Kinderzimmer umher und schrie vor Wut. »Du solltest solche Dinge nicht sagen«, antwortete Peter. »Selbstverständlich tut es mir unendlich Leid, aber wie konnte ich wissen, dass du in der Schublade warst?« Wendy hörte Peter nicht zu. »Oh Peter«, rief sie, »wenn sie doch nur still halten würde, damit ich sie betrachten kann!« »Sie halten so gut wie nie still«, sagte er, aber einen Moment lang sah Wendy die romantische Gestalt auf der Kuckucksuhr inne halten. »Ach, die Liebste!«, rief sie, obgleich Tinker Bells Gesicht noch immer von Wut gezeichnet war. »Tink«, sagte Peter liebenswürdig, »diese Dame sagt, sie wünschte sich, du wärst ihre Fee.« Tinker Bell antwortete auf beleidigende Weise.
Sie saßen mittlerweile nebeneinander auf dem Sessel und Wendy stellte ihm noch unzählige weitere Fragen.
»Wenn du nicht in Kensington Gardens wohnst – « »Manchmal tue ich das noch.« »Aber wo lebst du denn die meiste Zeit?« »Bei den Verlorenen Jungs.« »Wer sind die denn?« »Es sind die Kinder, die aus ihren Kinderwägen fallen, wenn die Kindermädchen wegsehen. Werden sie nicht innerhalb von sieben Tagen zurückverlangt, werden sie weit weg geschickt ins Nimmerland, um die Kosten gering zu halten. Ich bin ihr Kapitän.« »Was muss das für ein Spaß sein!« »Ja«, sagte Peter listig, »aber wir sind recht einsam. Siehst du, wir haben keine weibliche Gesellschaft.« »Sind da keine Mädchen?« »Ach nein. Mädchen sind viel zu schlau, um aus dem Kinderwagen zu fallen.« Das schmeichelte Wendy ungemein. »Ich denke«, sagte sie, »es ist wundervoll, wie du über Mädchen sprichst. John da drüben verachtet uns geradezu.« Anstatt zu antworten, erhob Peter sich und trat John aus dem Bett mit all den Decken und so und das mit nur einem Tritt. Für ein erstes Treffen fand Wendy das zu dreist und mutig erklärte sie ihm, dass er in ihrem Haus nicht der Kapitän sei. Wie auch immer schlief John seelenruhig auf dem Boden weiter, sodass sie ihn dort weiterschlafen ließ. »Ich weiß ja, dass du nett sein wolltest«, lenkte sie ein und sagte dann, »darum darfst du mir einen Kuss geben.« Sie hatte einen Moment lang vergessen, dass er keine Ahnung von Küssen hatte. »Ich dachte mir schon, dass du ihn zurückverlangen würdest«, sagte er verbittert und reichte ihr den Fingerhut. »Ach herrje«, sagte die liebe Wendy. »Ich meinte keinen Kuss. Ich meine einen Fingerhut.« »Was ist das?« »So etwas.« Sie küsste ihn. »Komisch!«, sagte Peter ernsthaft. »Soll ich dir jetzt einen Fingerhut geben?« »Wenn du es wünschst«, sagte Wendy, deren Kopf dieses Mal erhoben blieb. Peter fingerhütete sie und fast im selben Moment kreischte sie. »Was ist los, Wendy?« »Es war, als ob mich jemand an meinen Haaren gezogen hätte.« »Das war bestimmt Tink. Ich habe sie noch nie so ungezogen erlebt.« Und in der Tat flog Tink wild fluchend umher. »Wendy, sie sagt, sie wird das immer mit dir machen, wenn ich dir einen Fingerhut gebe.« »Aber warum denn?« »Warum, Tink?« Tink antwortete: »Du dummer Esel.« Peter verstand nicht, Wendy dafür umso besser und sie war ein wenig enttäuscht, als er zugab, dass er zum Kinderzimmer geflogen kam, um Geschichten zu hören und nicht um sie zu sehen. »Weißt du, ich kenne keine Geschichten. Keiner von den Verlorenen Jungs kennt Geschichten.« »Ach wie schrecklich«, sagte Wendy. »Weißt du«, fragte Peter, »wieso Schwalben in den Dachvorsprüngen nisten? Sie tun es, weil sie den Geschichten lauschen wollen. Ach Wendy, deine Mutter hat eine so schöne Geschichte erzählt.« »Welche Geschichte war es denn?« »Die über den Prinzen, der die Dame nicht finden konnte, die den Glasschuh trug.« »Peter«, sagte Wendy aufgeregt, »das war Aschenputtel und er fand sie und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende.« Peter war so froh, das zu hören, dass er vom Boden aufstand und zum Fenster eilte. »Wo gehst du hin?«, schrie sie, weil sie Böses ahnte. »Ich gehe, es den Verlorenen Jungs sagen.« »Geh nicht, Peter«, flehte sie ihn an, »ich kenne noch viel mehr Geschichten.« Das waren ihre genauen Worte, also kann es keinen Zweifel daran geben, dass sie ihn zuerst in Versuchung geführt hatte. Er kam zurück und jetzt war ein gieriges Funkeln in seinen Augen zu sehen, was sie eigentlich hätte warnen sollen, aber das tat es nicht. »Ach, die vielen Geschichten, die ich den Verlorenen Jungs erzählen könnte!«, rief sie und da griff Peter sie an der Hand und zog sie mit sich zum Fenster. »Lass mich gehen!«, befahl sie ihm. »Wendy, komm doch bitte mit mir und erzähl den Jungs die Geschichten.« Natürlich ehrte die Einladung sie, aber sie sagte: »Auwei, ich kann nicht. Denk an meine Mami! Davon abgesehen kann ich nicht fliegen.« »Ich bringe es dir bei.« »Zu fliegen, ach, wie schön.« »Ich zeige dir, wie man auf den Rücken des Windes springt und fort sind wir.« »Ooh!«, rief sie begeistert aus. »Wendy, Wendy, anstatt in deinem doofen Bett zu schlafen, könntest du mit mir umherfliegen und den Sternen lustige Sachen sagen.« »Ooh!« »Und Wendy, da gibt es Meerjungfrauen.« »Meerjungfrauen! Mit Schwänzen?« »Mit so langen Schwänzen.« »Oh«, rief Wendy aus, »eine Meerjungfrau zu sehen!« Er wurde gefährlich listig. »Wendy«, sagte er, »wir alle würden dich respektieren.« Ihr kleiner Körper wand sich vor Verzweiflung. Es war, als kämpfe sie damit, auf dem Boden des Kinderzimmers sitzen zu bleiben.« Aber er hatte kein Mitleid mit ihr. »Wendy«, sagte der listige Kerl, »du könntest uns jede Nacht ins Bett bringen.« »Ooh!« »Keiner von uns wurde jemals zuvor nachts zugedeckt.« »Ooh!«, und ihre Arme legten sich um ihn. »Und du könntest unsere Kleider flicken und Hosentaschen für uns machen. Keiner von uns hat Hosentaschen.« Wie sollte sie da widerstehen? »Es ist so überaus faszinierend!«, rief sie. »Peter, würdest du John und Michael auch das Fliegen beibringen?« »Wenn du das willst«, sagte er unbekümmert und sie lief zu John und Michael und schüttelte sie. »Wacht auf«, rief sie, »Peter Pan ist gekommen und er wird uns das Fliegen beibringen.« John rieb sich die Augen. »Dann werde ich aufstehen«, sagte er. Natürlich lag er bereits auf dem Boden. »Hallo«, sagte er, »Ich bin schon auf!« Michael war mittlerweile auch schon wach und sein Blick war so scharf wie ein Messer mit sechs Klingen und einer Säge, doch Peter forderte sie kurzerhand zum Stillschweigen auf. Ihre Gesichter strahlten mit dem unglaublichen Scharfsinn von Kindern, die auf Klänge aus der Erwachsenenwelt lauschen. Es herrschte Grabesruhe. Dann war wieder alles in Ordnung. Nein, halt! Alles war falsch. Nana, die den ganzen Abend qualvoll gebellt hatte, war jetzt ruhig. Es war ihr Schweigen gewesen, das sie gehört hatten. »Macht das Licht aus! Versteckt euch! Schnell«, rief John, der zum ersten und letzten Mal während des Abenteuers das Kommando übernommen hatte. Und als Liza mit Nana an der Leine hereinkam, wirkte das Kinderzimmer wie eh und je. Alles war dunkel und man hätte schwören können, dass seine drei verruchten Bewohner engelsgleich vor sich hin atmeten, während sie schliefen. Sie machten das wirklich raffiniert von ihrem Versteck hinter den Vorhängen aus. Liza, der noch immer eine Rosine an der Wange klebte, war furchtbar wütend, denn sie hatte gerade den Weihnachtspudding in der Küche angerührt und war nur wegen Nanas absurden Verdächtigungen nicht mehr dort. Sie hielt es für das Beste, wollte sie ein wenig Ruhe bekommen, Nana einen Blick ins Kinderzimmer werfen zu lassen, aber unter Aufsicht versteht sich. »Da hast du es, du misstrauisches Biest«, sagte sie, ohne Mitleid für ihre Blamage zu haben. »Sie sind in Sicherheit, oder nicht? Die kleinen Engelchen schlafen tief und fest in ihren Bettchen. Hör, wie sanft sie atmen.« Von seinem Erfolg ermutigt atmete Michael nun so laut, dass sie fast entdeckt worden wären. Nana kannte diese Art zu atmen und sie versuchte, sich aus Lizas Fängen zu lösen. Aber Liza war begriffsstutzig. »Hör damit auf, Nana«, sagte sie streng und zog sie aus dem Zimmer. »Ich warne dich, falls du wieder bellen solltest, gehe ich auf direktem Weg zu Herrchen und Frauchen und bringe sie nach Hause und dann, ach, dann wird der Herr dir tüchtig die Leviten lesen.« Sie band den unglücklichen Hund wieder an, aber glaubst du, Nana hätte mit dem Bellen aufgehört? Bring Herr und Herrin von der Party nach Hause! Das war doch genau das, was sie wollte. Glaubst du, es machte ihr auch nur im Entferntesten etwas aus, dass man sie züchtigen würde, solange ihre Schutzbefohlenen in Sicherheit waren? Unglücklicherweise kehrte Liza zu ihrem Pudding zurück und Nana, die einsehen musste, dass von ihr keine Hilfe zu erwarten war, zerrte und zerrte an der Kette, bis sie sie endlich zerrissen hatte. Im nächsten Moment drang sie ins Esszimmer von Nummer 27 ein und warf ihre Pfoten dem Himmel entgegen, was ihre ausdrucksstärkste Art der Kommunikation war. Mr. und Mrs. Darling wussten auf der Stelle, dass sich etwas Furchtbares im Kinderzimmer ereignete und ohne sich von ihrer Gastgeberin zu verabschieden, rannten sie auf die Straße hinaus. Aber es war nun schon zehn Minuten her, dass die drei Schufte atmend hinter den Gardinen gestanden hatten und Peter Pan kann in zehn Minuten eine ganze Menge auf die Beine stellen. Kehren wir zum Kinderzimmer zurück. »Alles in Ordnung«, meldete John, der aus seinem Versteck hervorkam. »Hör mal, Peter, kannst du wirklich fliegen?« Anstatt sich mit einer Antwort abzumühen, flog Peter im Zimmer umher – haarscharf am Kaminsims vorbei. »Erstklassig«, sagten John und Michael. »Super!«, rief Wendy. »Ja, ich bin super, oh, ich bin super!«, sagte Peter, der wieder einmal seine Manieren vergessen hatte. Es sah verblüffend einfach aus und erst versuchten sie es vom Boden aus und dann von den Betten, aber es ging immerzu abwärts statt aufwärts. »Hör mal, wie machst du das?«, fragte John, während er sein Knie rieb. Er war ein ziemlich praktisch denkender Junge. »Du denkst einfach an schöne, wundervolle Gedanken«, erklärte Peter, »und die heben dich dann hoch in die Luft.« Er zeigte es ihnen wieder. »Du bist so schnell«, sagte John, »könntest du es nicht mal ganz langsam machen?« Peter machte es mal langsam und dann wieder schnell. »Ich hab's jetzt, Wendy!«, rief John, der bald merkte, dass er es doch nicht ›hatte‹. Keiner von ihnen konnte auch nur einen Zentimeter weit fliegen und das obwohl sogar Michael schon zweisilbige Wörter schreiben konnte, während Peter nicht einmal A von B unterscheiden konnte. Natürlich hatte sich Peter einen Scherz mit ihnen erlaubt, denn niemand kann fliegen, außer Feenstaub wurde auf ihn gepustet. Zum Glück war, wie wir bereits erwähnt haben, eine seiner Hände mit Feenstaub beschmiert und er blies ein wenig davon auf jeden von ihnen, was die prächtigsten Ergebnisse zur Folge hatte. »Jetzt wackelt mit euren Schultern, und zwar so«, sagte er, »und lasst los.« Sie waren alle auf ihren Betten und der furchtlose Michael ließ als erstes los. Er hatte nicht wirklich vorgehabt loszulassen, aber er tat es und auf der Stelle wurde er durch das Zimmer getragen. »Ich bin gefliegt!«, schrie er während er mitten in der Luft hing. John ließ los und traf Wendy in der Nähe des Badezimmers. »Oh, wie schön!« »Oh, wie herrlich!« »Sieh mich an!« »Sieh mich an!« »Sieh mich an!« Sie waren nicht halb so elegant wie Peter. Sie traten ständig aus und ihre Köpfe hüpften auf und ab und schlugen immer wieder gegen die Decke, was zu köstlich war mitanzusehen. Anfangs reichte Peter Wendy die Hand, aber er musste loslassen, weil es Tink ärgerte. Es ging auf und ab und rund und rund im Kreis herum. Himmlisch waren Wendys Worte. »Hört mal«, rief John, »warum gehen wir nicht nach draußen?« Natürlich hatte Peter sie die ganze Zeit dazu verleiten wollen. Michael war bereit: er wollte sehen, wie lange er brauchen würde, um eine Milliarde Meilen zurückzulegen. Aber Wendy zögerte. »Meerjungfrauen!«, sagte Peter wieder. »Ooh!« »Und da gibt es Piraten.« »Piraten«, rief John, der seinen Sonntagshut packte, »lasst uns sofort aufbrechen.« Genau in diesem Moment hasteten Mr. und Mrs. Darling zusammen mit Nana aus Haus Nummer 27. Sie liefen auf die Straße und blickten hinauf zum Kinderzimmerfenster und ja, es war noch immer verschlossen, doch war das Zimmer strahlend hell beleuchtet und das Herzzerreißende war, dass sie die Schatten von drei kleinen Figuren auf den Vorhängen sehen konnten, die in ihren Nachtkleidern ihre Kreise drehten – nicht auf dem Boden sondern in der Luft! Nicht drei Figuren, vier! Zitternd öffneten sie die Tür. Mr. Darling wollte schon nach oben stürmen, aber Mrs. Darling gab ihm Zeichen, leise zu machen. Sie versuchte sogar, ihr Herz leise schlagen zu lassen. Werden sie das Kinderzimmer noch rechtzeitig erreichen? Wenn ja, wie erfreulich für sie und wir alle sollen einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen, aber dann gibt es keine Geschichte. Andererseits, wenn sie nicht rechtzeitig ankommen, verspreche ich hoch und feierlich, dass am Ende alles wieder in Ordnung kommt. Sie hätten das Kinderzimmer rechtzeitig erreicht, hätten die kleinen Sterne sie nicht im Auge gehabt. Einmal mehr bliesen die Sterne das Fenster auf und der kleinste Stern von allen rief: »Aufgepasst, Peter!« Da wusste Peter, dass er keine Zeit zu verlieren hatte. »Kommt«, schrie er gebieterisch und schoss sogleich hinaus in die Nacht. John und Michael und Wendy folgten ihm. Mr. und Mrs Darling und Nana eilten ins Kinderzimmer, aber zu spät – die Vögel waren ausgeflogen. |
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